Die folgende Geschichte hat sich zu einem anderen Zeitpunkt im Jahr zugetragen.

Dennoch könnte sie eine wunderbare Weihnachtsgeschichte sein. Sie ist mir tatsächlich so widerfahren, hat mir zu denken gegeben und hat mich für lange Zeit glücklich gemacht.

Die Geschichte hat mit dem Berufsleben nur am Rande zu tun, dafür aber viel mit dem Leben an sich. Daher darf sie den letzten Blog-Beitrag dieses Jahres bilden.

Das Wunder von Barcelona

Wieder einmal hatte ich das Glück, nach Barcelona reisen zu dürfen. Ich bin schon oft dort gewesen, und bei jedem meiner Besuche verliebe ich mich aufs Neue in diese lebendige, freundliche Stadt. So oft ich auch komme, nie werden meine Erwartungen enttäuscht. Barcelona empfängt mich, so hat es den Anschein, stets mit offenen Armen und hat immer etwas Besonderes für mich parat. Dieses Mal war es zunächst der Frühling, der hier bereits in voller Blüte stand und mich den hartnäckigen Winter, der zu Hause noch, den Kalender missachtend, sein Unwesen trieb, schon auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt vergessen ließ.

Bezauberndes hatte ich in Barcelona schon erlebt, doch diesmal erwarteten mich richtige Wunder, zwei afrikanische Wunder, ein kleines und ein großes – oder vielleicht waren am Ende beide ganz groß?

Ich begann meinen Aufenthalt wie immer. Ich hatte Zeit, die Tagung begann erst am nächsten Morgen. Die milden Temperaturen luden zum Verweilen im Freien, und so begab ich mich auf die Ramblas und schlenderte in Richtung Hafen. Ich sah den Gauklern zu, die ihre Kunststücke zum Besten gaben, gönnte mir das erste Eis der Saison, machte einen kleinen Rundgang durch den Fisch-, Fleisch- und Gemüsemarkt und inspizierte wie immer die Auslagen der zahllosen Schuhgeschäfte, die die breite Straße säumen. Die Ramblas waren belebt wie immer. Zu den Einheimischen und den Touristen gesellten sich diesmal Massen rot gekleideter Fußballfans aus Portugal, die ihrer Mannschaft zum Spiel gegen den FC Barcelona gefolgt waren und nun in Rudeln durch die Stadt lärmten. Amüsiert blieb ich immer wieder stehen und ließ die Fahnen schwingenden Fans, teilweise ganze Familienclans, an mir vorbeiziehen. Ich genoss die Strahlen der abendlichen Sonne und fühlte meine Lebensgeister, die der Winter auf Sparflamme gehalten hatte, neu erwachen.

Neben einem Abgang zur U-Bahn sah ich die Bettlerin. Zusammengekauert hockte sie am Straßenrand, klein, dünn, dunkelhäutig, in schmutzige Fetzen gehüllt, die verfilzten Haare grau vom Straßenstaub. Beharrlich zu Boden blickend hielt sie die Hand auf, mutlos und ohne Erwartung. Passanten gingen achtlos an ihr vorbei.

Ich betrachtete sie aus ein paar Metern Entfernung. Sie war noch jung, vielleicht um die Zwanzig, und doch schien sie schon zerstört an Leib und Seele, ein trauriges Bild des Elends und der Hoffnungslosigkeit.

Ein paar Wochen zuvor war ich in Afrika gewesen und dachte an das schier unaufhörliche Lachen der Kinder dort, das mich ohne Ende entzückt hatte. Ich dachte an die hoffnungsfrohen jungen Menschen in den höheren Schulen, die sich um uns geschart und uns mit Anmut und feurigen Blicken von ihren Zukunftsplänen erzählt hatten. Die junge Frau da war kaum älter als sie. Was war mit ihr geschehen? Hatte sie den kollektiven afrikanischen Traum von dem europäischen Paradies geträumt? Hatte sie wie so viele andere ihr Leben riskiert um ins gelobte Land zu kommen, das ihr am Ende statt Arbeit und Einkommen das Dasein einer Sklavin bot? Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, welches unbarmherzige Schicksal die junge Frau hier im blühenden Barcelona hatte stranden lassen. Ich trat zu ihr hin und drückte ihr einen Zehn-Euro-Schein in die Hand.

Erschrocken zuckte sie zusammen, blickte ungläubig auf das Geld und schaute dann vorsichtig zu mir hoch, als erwarte sie nichts Gutes. Ich sagte „Voilà, Madame“, drehte mich um und machte mich, ohne zurück zu blicken, rasch davon. Nach ein paar Schritten überkam mich eine unbestimmte Traurigkeit. Was half es schon, dieser Afrikanerin ein bisschen Geld zu geben? Welchen Unterschied machte es für sie? Oder für mich? Tat sich durch meine Geste, so großzügig sie im Moment scheinen mochte, nicht eigentlich die ganze Schande der Ungleichheit und Ungerechtigkeit auf der Welt symbolisch auf? Ich fühlte mich plötzlich elend und beschloss, die Episode so rasch wie möglich zu vergessen.

Ich verließ die Ramblas, bog nach links ab und spazierte in die Altstadt. Zwischen Picasso-Museum und Strandpromenade lief ich eine Weile die kleinen, engen Gassen auf und ab. Plötzlich fiel mir das afrikanische Geschäft ein, das irgendwo in der Nähe sein musste. Bei meinem letzten Aufenthalt hatte ich dort Kinkeliba-Tee gefunden, den ich auf meiner Reise kennengelernt hatte, und den es bei uns nicht zu kaufen gibt. Ich gelangte zum Platz vor der Kirche Santa Maria del Mar und betrat dort, da ich es nicht eilig hatte, das Gotteshaus. Spontan beschloss ich, ein wenig zu bleiben, suchte mir in dem kühlen, geräumigen Kirchenschiff einen Platz abseits vom Getümmel und setzte mich in eine Bank.

Eine ‘spiritualistische Welle’ überkam mich. Ich kaufte eine Kerze, stellte sie zu den anderen mit Wünschen und Bitten versehenen Kerzen, setzte mich wieder in meine Bank und nahm Kontakt mit meiner Großmutter auf. Sie war schon lange tot. Schick mir etwas Schönes, Oma, bitte, bitte, bat ich sie mit einem innerlichen Blick nach oben. Dann sah ich der Kerze beim Brennen zu und versank in Erinnerungen an meine Großmutter und all die anderen lieben Menschen, die schon gegangen sind. Nach einer Weile verließ ich seltsam gestärkt die Kirche.

In der nächsten Seitengasse stieß ich auf ein Geschäft mit senegalesischem Kunsthandwerk. Es führte keinen Kinkeliba-Tee, der Besitzer wusste aber, wo dieser zu haben sei. Bei Yusuf, sagte er, und wies mir den Weg. Wieder schlängelte ich mich mit den Touristenkolonnen kreuz und quer durch die Gässchen bis ich endlich vor Yusufs Geschäft stand. Es war, obwohl die Tafel Öffnungszeit anzeigte, geschlossen.

Nun, egal, dachte ich, und ging ein Eis essen. Als ich nach einer halben Stunde noch einmal vorbeikam, hatte ich mehr Glück, der Laden war nun geöffnet. Ich besah mir die gewebten Stoffe, die geflochtenen Körbe, die Schnitzereien, stöberte durch die CDs und fand schließlich den Tee. Während er eingepackt wurde, bekam ich Lust mich ein bisschen wichtig zu machen und mit afrikanischem Insiderwissen zu protzen. Ob er eine neue CD von El Hadj N’diaye hätte, fragte ich den Verkäufer, obwohl ich bereits gesehen hatte, dass es keine gab.

Wer? fragte der Verkäufer freundlich, und ließ mich den Namen des Sängers wiederholen. Als er sicher war richtig verstanden zu haben, nickte er heftig und meinte, ja, der ist wirklich ein guter Sänger, doch leider, neue CD gäbe es keine. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Er zog einen Zettel hervor und hielt ihn mir hin. Es war das Konzertprogramm des Auditorio, eines Konzerthauses in Barcelona. Ich setzte die Brille auf und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Ja tatsächlich, sagte der Verkäufer mit strahlendem Grinsen, der Typ spielt heute in Barcelona. Fahr hin, vielleicht bekommst du noch eine Karte.

Im Taxi sitzend zitterte ich vor Aufregung. War es denn wirklich zu glauben, dass ich das Glück haben sollte, diesen wunderbaren Sänger aus dem Senegal, dessen Musik ich seit Jahren liebte, und dessen Konzertankündigungen im fernen Frankreich ich seit langem mit Sehnsucht verfolgte, live zu hören, einfach so, ohne weitere Hürden? Was, wenn das Konzert ausverkauft war? Ich werde in den Konzertsaal gelangen, egal wie, sagte ich mir wild entschlossen und spann hektisch allerhand Ideen. Es waren jedoch mein Tag und meine Stunde. Die junge Dame an der Kassa drehte den Bildschirm zu mir und zeigte mir die Abbildung der Sitzreihen. Ein einziger Platz war noch frei, in der achten Reihe. For you, sagte sie lächelnd.

Ehrfürchtig saß ich im Konzertsaal und lauschte dem eindringlichen Klang dieser außergewöhnlichen Stimme, die in einem Moment sanft schmeichelnd von Liebe und Zärtlichkeit flüstern konnte und im nächsten aus tiefer Kehle den Schmerz des Schwarzen Kontinents hinausschrie, dass es einem die Eingeweide zusammenzog. Ich konnte mich nicht satt sehen an diesem Sänger, der mit seiner Ausstrahlung mühelos das halbe Universum in seinen Bann zu ziehen vermochte, und erschauderte ob der Leidenschaft, mit der er seine Anliegen vortrug. Danke für dieses Geschenk, Oma, flüsterte ich irgendwann in Richtung Himmel, danke, danke, danke!

Am nächsten Tag, als ich kurz vor der Heimreise noch einmal die Ramblas entlang bummelte, war ich, den Nachklang der Musik N’dayes noch immer im Ohr, in Hochstimmung ob der Aneinanderreihung all der glücklichen Fügungen, die mir am Vortag widerfahren waren. Die Bettlerin fiel mir erst wieder ein, als ich sie an derselben Straßenecke sitzen sah wie tags zuvor.

Diesmal wollte ich sie nicht beachten. Im Vorübergehen vermeinte ich aus dem Augenwinkel zu bemerken, dass etwas anders war. Nun sah ich doch hin und staunte. Auf dem Bettelplatz saß kein verstaubtes Häufchen Elend mehr, sondern ein Mensch, eine junge Frau in sauberer Kleidung und aufrechter Haltung, die nicht mehr verschämt zu Boden blickte, sondern den Vorbeigehenden in die Augen sah während sie um eine milde Gabe bat. Sie war zwar noch immer eine Bettlerin, doch sie hatte sich offensichtlich ihrer menschlichen Würde und ihres Stolzes besonnen. 

War ihr etwa auch ein kleines Wunder widerfahren so wie mir, fragte ich mich. Mir wurde warm ums Herz. Leise stieg der Gedanke in mir auf, dass womöglich mein kleines Geldgeschenk etwas mit ihrer Verwandlung zu tun hatte. Vielleicht hatte sie mit dem Geld, das für Leute wie mich nicht mehr bedeutete als zwei Espressi in einem schicken Kaffeehaus, einmal ordentlich essen, ein Bad nehmen, ihre Kleider waschen können? Hatte ich ihr ein Stück Würde zurückgegeben? Der Gedanke gefiel mir schon recht gut, doch vielleicht war noch viel mehr passiert.

Was, wenn nicht nur ich mich ob des kleinen Wunders, das mir widerfahren war, wie ein Glückskind fühlte, sondern auch sie? Genau wie ich war auch sie, die sonst meistens leer ausging oder mit Almosen abgespeist wurde, am Vortag einer großzügigen Geste des Schicksals wert gewesen. Vielleicht spürte sie im Moment gerade die gleiche Zuversicht wie ich, weil schließlich alles, was einmal geschehen war, immer wieder mal passieren konnte. Auch das Gute.

IN DIESEM SINNE WÜNSCHE ICH MEINER GESCHÄTZTEN LESERSCHAFT FROHE WEIHNACHTEN UND EIN NEUES JAHR MIT MÖGLICHST VIELEN GLÜCKLICHEN WUNDERN! Auf ein gesundes und tatendurstiges Wiedersehen Anfang 2024!