Man hat einen perfekten Satz Bewerbungsunterlagen abgegeben, man hat ein erfolgreiches Bewerbungsgespräch geführt, hinsichtlich Qualifikation, Alter, Geschlecht usw. passte man genau auf die ausgeschriebene Stelle und ins Team, die Gehaltsvorstellungen waren im Rahmen, die Arbeitszeiten waren attraktiv, es war beim Gespräch gegenseitige Sympathie spürbar gewesen … und dennoch kommt eine Absage.

Wie kann das sein? Was hat man falsch gemacht?

Die Mentorin berichtet:

Ich würde, sofern der Bewerbungsprozess tatsächlich so verlaufen ist wie oben geschildert, mal eine Ferndiagnose wagen und sagen: Höchstwahrscheinlich hat die/der Bewerber:in gar nichts falsch gemacht.

„Wir suchen nie den besten Bewerber, sondern den richtigen“ – diese Aussage eines internationalen Managers trifft so gut wie immer so, zumindest dort, wo nicht allzu viel subjektive Faktoren im Spiel sind und tatsächlich versucht wird, die für das Unternehmen beste Wahl zu treffen.

Der Satz des Managers sagt aber implizit auch bereits aus, dass nicht immer die objektiv messbare Qualifikation ausschlaggebend ist. Wer jeweils der/die „richtige“ Bewerber:in ist, kann von vielen verschiedenen Kalkülen abhängen – von hehren, und auch von unfairen und fragwürdigen. Vielleicht sucht man jemanden, der genau in ein Team passt. Vielleicht will man eine Persönlichkeit mit einer ganz bestimmten sozialen Kompetenz. Möglich ist aber auch, dass auf Seiten der Personalverantwortlichen ein verletztes Ego über die Besetzung entscheidet, und ein/e brillante/r Bewerber:in nicht zum Zug kommt, weil Konkurrenz befürchtet wird.

Gründe für Absagen, die mit der Qualifikation der Bewerber:innen nichts zu tun haben

Viel öfter als man denkt kommen tatsächlich Entscheidungskriterien zum Tragen, die wenig bis gar nichts mit der Qualifikation von Bewerber:innen zu tun haben. Ich kann mich spontan an eine Reihe von Absagegründen erinnern, die mir im Laufe meines Berufslebens untergekommen sind.

Einige Beispiele:

  • Die Ausschreibung ist nur pro forma erfolgt, während in Wirklichkeit von Anfang an feststand, wer die Stelle bekommen soll.
  • Die Firma hat zwar inseriert, hatte jedoch gar keine Stelle zu besetzen. Es ging nur darum, der Konkurrenz Wachstum und Expansion zu vorzugaukeln.
  • Während die Ausschreibung gelaufen ist, tauchte jemand, zum Beispiel der Neffe eines Teilhabers, auf und musste eingestellt werden.  
  • Der Chef hatte Angst vor der fachlichen Kompetenz oder der ausgereiften Persönlichkeit des Bewerbers/der Bewerberin (“Der/die ist überqualifiziert”).
  • Der Chef lehnte den Bewerber ab, weil sich weibliche Teammitglieder für ihn ausgesprochen haben, und er eifersüchtig war (“Hier entscheiden wohl die Hormone, hä!”).
  • Der/die Bewerber:in war wirklich überqualifiziert (“Der/die bleibt uns ja nicht lange erhalten” oder: “Ich schäme mich ja, jemand so hoch Qualifizierten einen so minderen Job anzubieten.”)
  • Der Bewerber/die Bewerberin erinnerte an den autoritären Vater, das verhasste Nachbarskind, usw. (“Der ist zu dominant. Die ist eine typische ‘große Schwester’.”)
  • Eine Bewerberin sah zu gut aus (“Die müssen wir verhindern, die wickelt den Chef um den Finger.”)
  • Man suchte, ohne es zu deklarieren, für die Stelle eine/n Bewerber:in eines bestimmten Geschlechts (“In diesen Hühnerhaufen gehört endlich ein Mann.”)
  • Man trauerte der Vorgängerin, die in Pension gegangen war, nach und wollte nun bewusst einen ganz anderen Typus Menschen an der Stelle haben.
  • Es wurde – bewusst oder unbewusst – nach Geschlecht oder sozialer oder ethnischer Herkunft diskriminiert. 
  • Die Firma wurde plötzlich umstrukturiert und Aufnahmeprozesse, die bereits im Gange waren, wurden “von oben” gestoppt.
  • Der Personalverantwortliche wurde degradiert bevor der Anstellungsvertrag unterschrieben war, und somit verlor seine Entscheidung ihre Gültigkeit.
  • Man hatte die Wahl zwischen zwei gleich guten Bewerber:innen, konnte sich nicht einigen, und entschied sich für eine/n Dritte/n.

Und so weiter. Es gibt wahrscheinlich noch viele weitere versteckte Gründe, die zu einer Absage an die/den Bewerber:in führen, und es versteht sich fast von selbst, dass die Bewerber:innen von diesen wahren Absagegründen niemals etwas erfahren.

Qualifikation, Erfahrung, Glück und Zufall

Qualifikation und Arbeitserfahrung spielen bei der Jobsuche die Hauptrolle. Daneben sind Referenzen, Netzwerke und nicht zuletzt persönliche Beziehungen nicht selten entscheidende Helfer bei der Jobsuche. Doch auch Zufall und Glück haben stets ihre Hände im Spiel. Man muss die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.

Absagen kränken

Natürlich habe auch ich im Laufe der Jahre einige Stellen, um die ich mich beworben habe, nicht erhalten. Jedes Mal habe ich mich über die Absage, die sich ja immer auch wie eine Zurückweisung anfühlt, gekränkt. Doch immer habe ich mir, manchmal mit dem Mut der Verzweiflung, gesagt, wer weiß, wozu es gut ist. Tatsächlich war ich oft ein paar Jahre später dem Schicksal dankbar, dass es die Weichen so und nicht anders gestellt hat. Wäre ich zum Beispiel vor fünfzehn Jahren bei der Bewerbung um eine Stelle im Ausland erfolgreich gewesen, wäre ich niemals in meinen heutigen Job gelandet und hätte die interessanteste Erfahrung meines Berufslebens versäumt.

Unerwartete Chancen

Zum Glück tun sich manchmal auch am rauen Arbeitsmarkt der heutigen Zeit unerwartete Chancen auf.

Wir haben kürzlich eine Mitarbeiterin aufgenommen, die bereits jenseits der Fünfzig war. Sie war gerade erst aus der Provinz in die Stadt gezogen, hatte keine einschlägige Berufserfahrung für die angestrebte Position, bestach aber mit ihrer freundlichen Art, auf Menschen zuzugehen, so sehr, dass wir uns für sie entschieden. „Sie liebt die Menschen“, sagte mein Vorstandskollege und sprach aus, was wir alle dachten: Ein Strahlewesen wie sie können wir in der Abteilung, im Unternehmen und im Umgang mit unseren Kund:innen gut gebrauchen. Wir stellten sie an, schickten sie in einen mehrmonatigen Kurs, wo sie sich das nötige technische Know-how aneignen konnte, und haben mit ihr, wie sich mittlerweile herausstellt, einen guten Griff getan.

Am Papier war sie zweifellos nicht die „beste Bewerberin“. Aber für uns war sie die richtige.

Tipp der Mentorin:

Ein Bewerbungsverfahren ist ein komplexes Gesamtpaket, dessen Ausgang man als Bewerber:in nur bedingt beeinflussen kann. Das sollten sich alle, die mit einer Absage konfrontiert werden, vor Augen halten, bevor sie den Mut verlieren und an sich selbst zu zweifeln beginnen.