27.11.2022

Führungskräfte sind einsam

Ob ich nicht einsam sei in meinem beruflichen Alltag, werde ich gelegentlich von Leuten gefragt, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie ich.

Die Mentorin berichtet:

Nun ja, als ein bisschen einsam könnte man meine Situation als Führungskraft durchaus treffend beschreiben.

Ich teile meinen beruflichen Alltag nicht wie früher, als ich noch eine der ihren war, mit Kolleginnen und Kollegen. Ich habe niemanden um mich, mit dem/der ich heikle Dinge besprechen und den/die ich um Rat fragen könnte, und auch niemanden um gemeinsam zu lachen, zu lästern oder Dampf abzulassen. Ich geselle mich in Arbeitspausen nicht zu meinen Mitarbeiter:innen, und sie sich schon gar nicht zu mir. In der Führungsetage bin ich vom normalen Büroalltag abgeschnitten und kriege das soziale Geschehen nur am Rande mit.

Führungskräfte werden in ihrer Rolle wahrgenommen, nicht als Mitmensch

Diese „Isolation“ hat, wie mir wohl bewusst ist, nichts mit meiner Persönlichkeit zu tun. Es gibt unter den Mitarbeiter:innen sicher einige, die mich als Person gerne mögen. Was uns trennt, ist meine Position und die damit verbundene Macht.

Die Natur meiner Aufgaben bringt es mit sich, dass ich die meiste Zeit auf mich alleine gestellt bin. Eine Führungskraft verfügt immer über Informationen, die den Mitarbeiter:innen normalerweise nicht zugänglich sind. Sie darf manche Informationen nicht teilen und muss sie, gerade wenn sie belastend sind, für sich behalten, sei es zum Schutze der Firma, sei es, um Mitarbeiter:innen nicht zu belasten oder gar zu verunsichern. Selbstverständlich gilt das Verschwiegenheitsgebot auch für das private Umfeld. Vor allem dürfen Firmengeheimnisse unter keinen Umständen an Außenstehende preisgeben werden.

Von ihrem Umfeld werden Führungskräfte für gewöhnlich mehr als alle anderen in ihrer Rolle als Vorgesetzte wahrgenommen und kaum als Mensch wie du und ich. Aus der Sicht der Belegschaft sollen Chefs und Chefinnen immer funktionieren. Es gibt für sie kein Mitgefühl und kein Pardon. Erleiden sie persönlich eine Niederlage oder werden sie beleidigt oder verletzt, tun sie gut daran, dennoch gute Miene zu machen. Als Führungskraft sollte man so wenig wie möglich über die eigenen Probleme reden und sich schon gar nicht bei Mitarbeiter:innen ausweinen. Ein/e jammernde Chef:in bringt Mitarbeiter:innen in höchste Verlegenheit, und nicht nur, weil diese ohnehin nicht helfen können, auch wenn sie es gerne wollten. Im Sinne klarer Verhältnisse sollte die Führungskraft in ihrer Rolle bleiben und Vertraulichkeiten vermeiden, nicht zuletzt auch, um ihre Position nicht zu schwächen.

Also muss eine Führungskraft über die meisten Problemlagen alleine nachdenken – oder sich mit Vorstandsmitgliedern, Aufsichtsrät.innen oder Branchenkolleg:innen beraten.

Mit wem bespricht eine Führungskraft ihre Probleme?

Da man jedoch als Führungskraft keine Maschine ist, braucht man darüber hinaus manchmal auch das vertrauliche Gespräch. Vielleicht hat der Partner/die Partnerin zu Hause ein offenes Ohr – wobei es sich meiner Erfahrung nach empfiehlt, dieses im Sinne eines entspannten Privatlebens nicht überzustrapazieren. Bleibt also der Austausch mit einem Coach. In der diskreten Atmosphäre einer Coaching-Praxis kann alles besprochen werden, was persönlich belastet, und man kann sich die nötige persönliche Unterstützung beim Finden von Lösungswegen holen.

Obwohl ich mit meinen Mitarbeiter:innen nicht über persönliche Probleme spreche, die mit meinem Job zu tun haben, habe ich ein Ohr für sie, wenn sie zu mir kommen und meinen Rat wünschen. Dann höre ich ihnen genauso aufmerksam zu wie ich es bei einer engen Freundin täte, wäge mit ihnen gemeinsam die Lage ab und tröste, wenn es passt, auch mit dem einen oder anderen Beispiel aus meinem Erfahrungsschatz. Auch ich habe so etwas schon erlebt … und überlebt…, sage ich dann zum Beispiel, und erläutere, gelassen und ein bisschen altersweise, wie ich das eine oder andere Problem aus der Welt geschafft und Widerstände oder Selbstzweifel überwunden habe. Zuweilen wirkt dies auf die Mitarbeiter:innen wie eine Zauberformel, und ich freue mich darüber, dass andere von meinen Erfahrungen profitieren. Ich beziehe mich, wenn ich von mir spreche, jedoch immer auf Vergangenes. Aktuelles lasse ich tunlichst außen vor.

Gehe ich in ein Lokal in der Nähe des Büros zum Mittagessen, sitzen dort öfters bereits Grüppchen von Mitarbeiter:innen. Sie laden mich nicht ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, und ich signalisiere ihnen wahrscheinlich auch recht deutlich, dass ich gar nicht eingeladen werden will, wenn ich, mit der Zeitung in der Hand, kurz nickend an ihren vorbei rausche und an dem Tisch Platz nehme, den die Sekretärin für mich hat reservieren lassen. Manchmal sitze ich abends noch an meinem Schreibtisch und weiß, dass im Pausenraum gerade ein kleines Geburtstagsfest, ein Krampuskränzchen oder ein Neujahrsumtrunk im Gange ist, zu dem alle eingeladen sind, nur die Chefinnen und Chefs nicht.

Bevor dann ein schmerzliches Gefühl des Nicht-Dazugehörens auftauchen kann, freue ich mich lieber über das gute Betriebsklima, das sich anhand solch kleiner Feiern manifestiert. Dann greife ich zum Telefonhörer und rufe H., Chefin einer Partnerfirma, an, und frage sie, ob sie Lust hat, mit mir ein Gläschen trinken zu gehen. Meist hat sie Lust, und dann reden wir, vertrauensvoll und offen, über die Dinge, die uns als „Karrierefrauen“ im Alltag so widerfahren. Sie arbeitet zwar für die Konkurrenz, und wir hüten uns, von unseren jeweiligen Firmen zu sprechen, aber was unsere beruflichen Rollen betrifft, so fühlen wir uns beide im selben Boot – und unterstützen einander immer wieder dabei, es uns darin so gemütlich wie möglich zu machen.

Tipp der Mentorin:

Heute, nach vielen Jahren einschlägiger Erfahrung als „einsame“ Führungskraft, kann ich allen meinen Nachfolger:innen den Rat mit auf den Weg geben, den ich einst von meiner Frau Coach bekommen habe: Wenn du Sorgen hast, behellige nicht deine Mitarbeiter:innen. Wende dich liebe an jene, die in der gleichen Position/Situation sind wie du! 

Die Mentorin - 10:25:48 @ Führungskraft sein | Kommentar hinzufügen

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