17.09.2022

Offene Türen

Ich will eine weitere Neuerung einführen. Im Gegensatz zu anderen Chef:innen will ich die Tür zu meinem Büro offen halten. Sofern ich nicht gerade einen Termin habe, sollen die Mitarbeiter:innen mit ihren Anliegen zu mir kommen können.

Ob das eine gute Idee ist?

Die Mentorin berichtet:

Meine Kollegen im Vorstand machen es auf die traditionelle Art von Führungskräften: Niemand gelangt unangemeldet an der Sekretärin vorbei in ihre Büros. Die getäfelten Türen bleiben immer fest geschlossen – außer für die Sekretärin, die zum Diktat gerufen wird, die Unterschriftenmappen vorlegt, Kaffee serviert oder Besucher:innen hereingeleitet.

Für Mitarbeiter:innen sind Termine bei den Chefs schwer zu bekommen. Will ein Abteilungsleiter mit seinem Vorgesetzten sprechen, muss er sich bei der Sekretärin einen Termin geben lassen. Die Mitarbeiter:innen der unteren Hierarchieebenen haben gemäß der Unternehmenshierarchie überhaupt keinen Zugang zur Vorstandsetage. Kommt ein Termin zustande, wissen alle, dass sie die wertvollen Minuten, die ihnen gewährt werden, effizient nutzen und ihre Anliegen penibel vorbereiten und konzentriert vortragen müssen. 

Auch ich melde mich bei der Sekretärin an, wenn ich einen meiner Kollegen sprechen will, und sie machen es ihrerseits bei mir genauso. Einer lässt sich sogar von seiner Sekretärin zu meiner Sekretärin verbinden, wenn er per Haustelefon mit mir sprechen will.

Meine Tür ist für alle offen

Ich will meinen Mitarbeiter:innen im Unternehmensalltag so begegnen, wie es meinen Grundsätzen von menschlichem Miteinander sowie meinen bisherigen Erfahrungen in Institutionen mit flachen Hierarchien entspricht: Jeder Mensch ist gleich viel wert, egal, welche Position er bekleidet, und daher sind es auch die Anliegen eines/einer jeden. Natürlich beachte ich die betriebliche Hierarchie und lasse mir in fachlichen Angelegenheiten von jenen berichten, die sich auf der nächsten Hierarchiestufe unter mir befinden. Aber abgesehen davon rede ich mit allen. Ich glaube an die Kraft demokratischer Verhältnisse und deren Symbolik und will die künstlichen hierarchischen Barrieren im Unternehmen zumindest da oder dort abbauen.

Bei einer der ersten Sitzungen mit den Abteilungsleiter:innen verkünde ich, dass meine Tür immer, wenn ich keine Besprechungen habe, für alle offensteht, und jedermann nach kurzfristiger Anfrage mit jedem Anliegen zu mir kommen darf.

Die Vorstandskollegen staunen, die Sekretärin schüttelt kaum merkbar den Kopf.

Mein Büro: ein OPEN HOUSE

Anfangs zögern die Mitarbeiter:innen, doch nachdem es die ersten gewagt haben, meine Schwelle zu überschreiten, herrscht in meinem Büro bald reges Kommen und Gehen. Die Leute schneien zu jeder Zeit herein und erzählen mir von ihren Erlebnissen und Schwierigkeiten mit Geschäftspartnern oder mit der Kundschaft, bald aber auch von privaten Problemen. Quasi en passant (weil ja die Tür gerade offen ist…) und ohne inhaltliche Vorbereitung deponiert eine Mitarbeiterin ihren Wunsch nach Versetzung in eine andere Abteilung und eine andere nach einer Gehaltserhöhung. Die Leute kommen um sich über Kolleginnen und Vorgesetzte der mittleren Ebene zu beschweren, und hoffen auf mein Eingreifen zu ihren Gunsten. Und so weiter. 

Anfangs finde ich den Kommunikationsfluss amüsant und aufschlussreich, weil ich viel über die Firma, die Mitarbeiter:innen und die Kundschaft erfahre. Doch mit der Zeit sehe ich mich immer öfter mit Angelegenheiten konfrontiert, die definitiv nicht auf die Führungsebene gehören. Zudem - und das wird zunehmend zu einem Ärgernis - kann ich auch nur noch selten ungestört arbeiten.

Eines Tages platzt jemand während der allgemeinen Mittagspause in mein Büro, während ich gerade meine Schinkensemmel esse und in der Zeitung blättere. Ach, Sie essen, sagt dieser Jemand, bleibt jedoch trotzdem mitten in meinem Büro stehen und beginnt sein Anliegen vorzutragen. Es bedarf meines ausdrücklichen Hinweises, dass ich – wie jede/r andere – beim Essen nicht gestört werden will, und er bitte jetzt gehen und später wiederkommen möge.

Die offene Tür - ein machtpolitischer Fehler?

Spätestens nach diesem Vorfall schwant mir, dass meine Politik der offenen Tür mir nicht nur Störungen in meinem Arbeitsablauf einbringt. Sie scheint auch in mehrerlei Hinsicht ein machtpolitischer Fehler zu sein. Offensichtlich untergrabe ich mit meinem Verhalten meine Position und meine Autorität.

Während die anderen Chefs ihre Verfügbarkeit knapp halten und die raren Termine, die sie gewähren, formell zelebrieren, herrscht bei mir die Atmosphäre von Plauderstündchen. Niemand bereitet die Präsentation seiner Anliegen ordentlich vor, niemand bemüht sich, sie kurz und knapp vorzubringen. Man kann ja schließlich jederzeit wiederkommen.

Termine, die man so leicht bekommt wie bei mir, sind offenbar nicht viel wert.

Darüber hinaus vermittelt mir ein fiktiver Blick von außen das Bild, das ich den Mitarbeiter:innen biete: Ich bin eine Chefin, die ihre Arbeit neben dem Lesen von einem halben Dutzend Mails, zwischen Telefonaten, und unter ständigem Reagieren auf Besucher:innen macht.

Wie anspruchsvoll kann eine solche Tätigkeit denn sein, wenn man sie quasi nebenher erledigen kann?

Sich rar machen, die eigene “Wichtigkeit” zelebrieren

Wieder erhalte ich guten Rat von meiner Frau Coach: Machen Sie es wie Ihre Vorstandskollegen, sagt sie. Ziehen Sie sich zumindest gelegentlich mit gewichtiger Miene in Ihr Büro zurück, schließen Sie die Tür, und lassen Sie die Sekretärin verkünden, dass die Chefin jetzt mal ein, zwei Stunden keinesfalls gestört werden darf, weder telefonisch noch persönlich. Sie werden sehen, wie das wirkt.

Natürlich hat die Frau Coach Recht, und es für mich höchste Zeit, ein wenig zurückzurudern.

Die Tür nur mehr “halb” offen

Ich werde meine Tür in Zukunft nicht ganz verschließen, weil ich weder die Mitarbeiter:innen enttäuschen noch mein Gesicht verlieren will. Doch ich reduziere meine “Sprechstunden” auf zwei halbe Vormittage in der Woche. Damit bin ich immer noch leichter erreichbar als die meisten Chef:innen, und das scheint mir angesichts der Tatsache, dass ich im Unternehmen auch für das Personalwesen verantwortlich bin, ganz in Ordnung.

Tipps der Mentorin:

Auch wenn sich eine Führungskraft als “erste Dienerin” der Belegschaft sieht (dazu mehr in einem der nächsten Einträge über “Führung”), erleichtert ein bisschen formale Distanz nicht nur den Büroalltag. Sie hilft auch insbesondere weiblichen Führungskräften, ihrer Tätigkeit Gewicht zu verleihen und die Autorität der Position zu wahren.

Die Mentorin - 12:21:34 @ Die ersten hundert Tage im neuen Unternehmen | Kommentar hinzufügen


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